Aus dem Tagebuch eines Bettlers (Andere Gedichte)
Aus dem Tagebuch eines Bettlers Ich klingelte. Ich bettelte um Brot. Um alte Sachen. Ich beschrieb anschaulich die Not. Ich kann so eine jämmerliche Miene machen.
Meine Familie sei teils hungrig, teils tot. Nur ein kleines, hartes, verschimmeltes Restchen Brot, Womit ich eigentlich Geld meinte. Der Herr verneinte. Ich versuchte diverse Gebärden.
Ich kann so urplötzlich ganz mager werden. Ich taumelte krank. Ich – stank. Da wurde ich gepackt. Fünf Minuten später war ich nackt.
In einer Wanne im Bad Bei dreißig Grad. Ich weinte. – Ich wußte: Hier half kein Beteuern. Man fing an, meine Kruste
Herunterzuscheuern.
Dieser Herr war ein Schelm. Ich wurde auf die Straße gestoßen. Ich fand mich in schwarzen Hosen, Lackschuhen, Frack und Tropenhelm.
Ich fand kein Geld. – Mir wurde bang, Ich fand nur ein Trambahn-Abonnement. Und ich ging auf die Reise, Fuhr mit der Sechzehn stundenlang Immer im Kreise.
Was halfen die noblen Sachen? Ich bettelte. Probeweise. Ich kann so eine kummervolle Miene machen. Aber die Leute begannen zu lachen Und die Haltestelle zu verpassen.
Ich sann auf einen Schlager. Ich wurde urplötzlich ganz mager. Ich wurde gewaltsam aus der Trambahn heruntergelassen. Da waren die Anlagen und Gassen Auf einmal ganz traurig und fremd.
Als ich aus dem Pfandhause kam, Trug ich nur noch Hose, Barfuß und Hemd.
Ich mußte mir einen Anzug leih’n. Ich ging mit der Gräfin Mabelle, Die eigentlich eine Büfettmamsell
Ist und gesucht wird, in ein Hotel. Wir speisten: Hirschbraten mit Knickebein. Wir sangen zu zwei’n: „Wer hat uns getraut –. . .“ Und zuletzt, ganz laut:
„Wohlauf noch getrunken den funkelnden Wein . . .“
Eingetragen am 08.11.2011 09:33:02 von 2rhyme
Autor: Joachim Ringelnatz
Quelle: de.wikisource.org
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